10 • TITEL Lebensfreude – das versöhnliche Funkeln im Herzen Eine Kurzgeschichte, nicht ohne Hu- mor, wie ich hoffe. Natürlich mit frei erfundenen Figuren. Und mit Dank an den Pflegedienst, besonders an Schwester Karen, die bereits über 25 Jahre lang in der Köster-Stiftung arbeitet. Ihre Schilderungen aus ei- ner Zeit davor wurden dankbar auf- genommen. | Klaus Servene würde ihre Anweisungen den ganzen Tag über wiederholen, während sie jetzt gerade Anstalten machte, das Zimmer barfuß und in Schlafkleidung zu verlassen. Frau B's Stimme ertön- te nun. Ein gleichsam musikalischer Kontrapunkt zum Vortrag der ande- ren. Es war ein Rätsel, was die Damen bewogen hatte, diese Sätze ständig wusch und hielt an welken Händen die Damen manchmal zurück. Zuweilen dachte sie, dass sie sich doch ungefähr so verhielten wie zurzeit große Tei- le der Gesellschaft. Ununterbrochen wurde geredet, zu oft vollkommen aneinander vorbei. Das Wort „Belas- tungsmarathon“, das so in Mode war, ließ sie schmunzeln. Diese Menschen verlangten gute Betreuung, und dafür waren Menschen wie sie, wie Svenja, nun mal zuständig. Heute Abend, nach einem gemütlichen Essen im Fa- milienkreis, worauf sie sich schon freute, würde Sven- ja ihr Notizbuch zu Hause noch mal durchlesen. In- teressant, die alten Zeiten! Immer mal wieder gut und heilsam, in Erinnerungen zu schwelgen. Wieviel sich doch geändert hat! Aber – ihr Vorhaben scheiterte gründlich, weil kurz vor Dienstschluss Frau U im Büro auftauchte. „In meinem Zimmer ist eine Maus!“, sagte sie tonlos und entsetzt. „Kann ich bei Ihnen schla- fen?“ Frau U stand im Ruf überängstlich zu sein, aber dennoch verpasste Svenja den Familienabend. Sie hatte jetzt un- erwartete „Beschwichtigungs-Über- stunden“ auf dem Zettel. Belastungs- marathon eben. Den absolvierte sie öfter. Ziemlich müde vom Arbeitstag aber mit einem versöhnlichen Funkeln im Herzen. Sie arbeitet schließlich für alle, die am Leben hängen. Ihr fiel ein Satz von Udo Lindenberg ein: „Die Tage sind gleich lang aber verschieden breit!“ Mit einem Lachen legte sie ihr Notizbuch wieder in die Schublade und wandte sich Frau U zu, die sich darüber sehr freute. Svenja, eben über 50, ver- heiratet, drei Kinder, kram- te in ihrer Dienstschublade. Da lag es ja, ihr altes No- tizbuch. Unter einer nicht so alten FFP2-Maske. Sie nahm es an sich und star- tete beschwingt in den Doppelschichttag. Ja da- mals! In einer anderen, ebenfalls altehrwürdigen Stiftung in Hamburg. Zimmer 106 war noch mit vier Damen belegt. Es war rätselhaft, nicht hin- nehmbar, doch das Zimmer war hin- sichtlich der Belegung in den 1970iger Jahren stecken geblieben. Die Damen reagierten sehr unterschiedlich auf die tägliche Hygiene, wurden alle nach dem Aufwachen aber gleich höchst ak- tiv. Sie hatte täglich große Mühe sie zu waschen, anzukleiden. „Du bist böse! Du bist böse!“, zisch- te Frau X ununterbrochen, während Svenja ihr die Haare kämmte. „Dass iss fürs Vaterland, dass iss die Missi- on fürs Vaterland ...“, ließ sich Frau Y wenig später und gleichzeitig verneh- men. Sie lag noch im Bett, die Decke hochgezogen bis zum Kinn, betete die Worte wie eine fromme Litanei. Kurz hintereinander verstärkten die bei- den anderen Damen diesen für Sven- ja seit langem bekannten Chor. „Tee und zwei Graubrotschnitten!“, befahl Frau A, „eine mit Rotwurst und eine mit Tilsiter Käse! Quatsch nicht!“ Sie Foto: stock.adobe.com – Cavan Jeden Tag gibt es etwas Gutes, auch wenn nicht jeder Tag gut ist. (PAL-Verlag) zu wiederholen, und längst hatte sich Svenja abgewöhnt, das Rätsel lösen zu wollen. „Sagen, fragen, leise kreisen, Gottes Wort, Dank sagen, fragen, leise kreisen, Gottes Wort, Dank sagen ...“ formulierte Frau B, summte die Worte wie einen heiligen Psalm, ohne sich je selbst zu unterbrechen. Und zweifellos auch, ohne sich selbst hinterfragen zu können. Die vier Damen würden ihren Chor bis zum Einschlafen heute Abend nahe- zu ununterbrochen fortsetzen. Es war ihre Art ihren unbedingten Lebens- willen auszudrücken. Wenn sie auch gepflegt werden mussten, so waren sie doch starke Persönlichkeiten mit lan- gen, sehr langen Lebenserfahrungen. Sie hatten verdient mit Respekt behan- delt zu werden. Svenja vollzog die täglichen Rituale wie immer gründlich, kämmte und